Wie so viele Episoden dieser Kolumne gibt es diese heute digital. Wobei ich mir gerne vorstelle, wie in irgendwelchen Amtsstuben oder Gesundheitseinrichtungen jemand am Montagmorgen die „neue Degitalisierung“ gedruckt und per Umlaufmappe verteilt, damit auch alle lesen, was die Kastl wieder Anstößiges über Digitalisierung geschrieben hat. Sollte das so sein, schreibt’s in die Kommentare. Abonnieren, Glocke und Daumen nach oben.
Aber nein, diese Kolumne gibt es zwar digital, aber gänzlich ohne aufgedrängte Interaktionsrituale für irgendwelche Algorithmen – nur Spenden helfen ab und zu.
Es lässt sich bei all der Digitalisierung der Eindruck gewinnen, es sei immer besser, dieses Digitale. Es steht für sich, weil es ja digital ist und das ist ja gut. Reden doch alle von dieser Digitalisierung.
Nun wird vielleicht am Ton dieses Einstiegs schon klar, dass es heute um die naive Annahme gehen soll, dass digitale Lösungen allein für sich gut seien. Diese Annahme ist die Wurzel vielen Übels in der Digitalisierung dieser Tage, speziell auch in Verwaltung und Gesundheitswesen. Heute soll es um verschiedene Arten von vermeintlichen digitalen Lösungen gehen. Sie alle sind irgendwie gut – glaubt man zumindest denen, die sie politisch als Erfolg feiern. Dabei ist alles nur ein unerträglicher digitaler Schein.
Elektronisch, aber irgendwie nicht digital
Von Jurist*innen habe ich eines gelernt: Eine präzise Ausdrucksweise ist unabdingbar, weil am Ende nur das rauskommt, was auch wirklich im Vertrag, im Gesetz oder in irgendeiner Art von juristischen Übereinkunft steht.
Viele schimpfen über das Onlinezugangsgesetz von 2017, das Verwaltungsleistungen wie den Antrag auf Elterngeld vom Papier ins Internet bringen soll. Vielleicht haben wir aber einfach die Übereinkunft nicht sorgsam gelesen, bevor wir uns mit unseren Erwartungen darauf eingelassen haben.
Bund und Länder sind verpflichtet, bis spätestens zum Ablauf des fünften auf die Verkündung dieses Gesetzes folgenden Kalenderjahres ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten.
Okay, zugegeben, das mit den fünf Jahren bis Ende 2022 hat nicht so ganz funktioniert, selbst wenn wir nach dem geschönten OZG-Dashboard gehen, das den aktuellen Stand der Umsetzung zeigen soll. Dort steht, insgesamt 136 Leistungen seien bundesweit online – auch wenn das im Einzelnen nur in einer einzigen Kommune der Fall ist. Aber elektronisch war das Ergebnis zumindest.
Bei den Leistungen, die online gingen, in time, da war zumindest das Ergebnis wahrhaft elektronisch. Nicht wirklich digital, weil etwa der BafÖG-Antrag eher die Drucker als die Server zum Schwitzen bringt. Aber hey, einige der mythischen 575 OZG-Leistungen war immerhin rechtzeitig online. Elektronisch. Von digital war ja nie die Rede.
Zahlen, aber irgendwie ohne Ziel
Die Rache der Journalist*innen an der Politik ist das Archiv. In den Tiefen des Internet findet sich da ein geradezu historisches Dokument. Der Umsetzungskatalog des Onlinezugangsgesetzes von 2018. Version 0.98. Darin steht:
Das vorliegende Dokument soll hierfür Klarheit schaffen, indem es die online anzubietenden Verwaltungsleistungen in etwa 575 OZG-Leistungen zusammenfasst. Die etwa 575 umzusetzenden OZG-Leistungen für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen sind anhand von Lebens- und Geschäftslagen systematisiert.
Moment. Klarheit schaffen wollen, aber dann „etwa 575“ schreiben? Zahlen sind ja nicht wie Gedichte zu interpretieren. Sie haben eine definierte, präzise Bedeutung. Etwa 575 Leistungen, die sich im Laufe der Zeit noch dazu stark gewandelt haben. Von den wichtigsten 575 nämlich zu erst 100, dann 35, und am Ende 16 priorisierten Fokus-Leistungen, die übrig geblieben sind. So ganz erkennbar war die Priorisierung dann auch nicht mehr, aber am Ende ging es immer darum, in immer kürzer werdender Zeit vielleicht noch eine immer kleiner werdende Zahl von elektronischen Leistungen irgendwie online zu kriegen. Also zumindest in einer Kommune, damit es auch im OZG-Dashboard zählt.
Schwammige Zahlen, die aber nicht mal ein Ziel ausdrücken. Denn ob diese Leistungen irgendwelche Ziele erreichen, das war nie so wirklich Ziel der vielzitierten Schaufensterdigitalisierung nach OZG. Wie lang soll denn ein Antrag bis zum Bescheid brauchen dürfen? Keine Ahnung, aber egal, war ja nie das Ziel. Das relevante Ziel war ja immer nur etwas Digitales hinzukriegen.
Was hingegen am Ende-zu-Ende der Digitalisierung als Ganzes rauskommen soll, das war nie wirklich verbindlich. Die Vision für die digitale Verwaltung in Deutschland fehlt an allen Ecken und Enden. Steuererklärung in ein paar Minuten wie in Estland? So lange lädt an schlechten Tagen in Deutschland die Steuererklärung über ELSTER, wenn sie denn lädt.
Lösungen, aber irgendwie am Problem vorbei
Nun hat diese Kolumne bereits sehr viel frustrierenden Verwaltungs-Anteil. Die Hoffnung liegt nahe, dass es in anderen Bereichen besser läuft mit dieser Digitalisierung. Es läuft irgendwie vorwärts an anderen Stellen, ja. Nur nicht unbedingt in eine Richtung, die das Ausgangsproblem lösen würde.
Die geplante Chatkontrolle der EU ist so ein klassisches Beispiel einer digitalen Non-Solution. Bequem zwar, weil sich ein schwieriges Problem wie sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige im Netz vermeintlich einfach mit digitalen Methoden lösen lassen soll. Aber leider auch nur eine digitale Scheinlösung.
Je tiefer man sich mit den Plänen der EU für die Chatkontrolle beschäftigt, desto mehr wird es ein ganz schlechtes und geradezu klischeehaftes Drehbuch eines digitalpolitischen Lobby-Dramas. Eine Technik mit hoher Fehlerrate, die einfach so in Kauf genommen wird. Das Recht auf vertrauliche und sichere Kommunikation, das aufgeweicht werden soll. Expert*innen in Deutschland, juristisch und technisch, die alle dagegen sind. Ein schlechter Film, bei dem immer mehr unschöne Verquickungen mit Tech-Lobbyismus und einer unheiligen Allianz von Sicherheitsbehörden bekannt werden. Mittendrin ein Schauspieler mit einem Glaubwürdigkeitsproblem.
Alles für eine Scheinlösung, die mehr Probleme schafft als sie löst. Aber hey, digital ist ja die Lösung. Bequem irgendwie und vielleicht sogar innovativ.
Digital allein ist kein Prädikat
Alles Beispiele digitalen Scheins. Auf ihre jeweilige Art vermeintlich leichte Lösungen für schwierige Probleme. Hier eine magische Technik, da ein paar Anträge elektronisch abwickeln können, dort irgendeinen Wert definieren, der ein Ziel sein soll.
Trotz dieser in der Realität komplett schief gelaufenen Beispiele glaube ich immer noch, dass Digitalisierung uns insgesamt weiterhelfen kann. Aber das hat nichts mehr mit Leichtigkeit zu tun. Das ist echt harte Arbeit, digitale Lösungen zu finden, die klare und sinnvolle Ziele erreichen. Am besten noch einigermaßen bald und immer im Rahmen eines meist engen Budgets.
Dazu brauchen wir eine konstruktiv kritische Kultur im Umgang mit dem Digitalen. Wir müssen aufhören Digitales als Scheinlösung für alles zu sehen, und stattdessen vieles hinterfragen. Ist die Lösung schneller, aber schließt sie auch keinen Menschen aus? Löst das ein Problem, aber schafft es nicht viele andere große Probleme in anderen Bereichen? Versuchen wir uns an der Erreichung sinniger Ziele zu messen oder wollen wir nur zu den coolen Tech-Bros gehören und schnell Cash machen? Schaffen wir eine Lösung, die andere mit unterstützt, oder wird es nur eine weitere abgelegene Insel innerhalb eines Ozeans voller Digitalinseln?
Digital allein ist dabei kein Prädikat, das irgendetwas besser macht. Ganz egal ob beim Onlinezugangsgesetz oder bei scheinbar magischen Technologien im Rahmen der Chatkontrolle. Nur fällt es meist leicht, sich auf Lösungen zu einigen, die irgendwie digital sind. Schlechte digitale Lösungen führen aber nicht zu Digitalisierung im guten Sinne, sie führen zu Degitalisierung. Digitale Lösungen in den Händen von Menschen mit scheinbar guten Motiven, aber fehlender Abwägung von technischen und sozialen Folgen, führen nicht zu digitalem Fortschritt, sie führen in digitale Dystopien.
Dagegen können wir etwas tun. Nur müssen wir dazu aufhören mit dieser unerträglichen Leichtigkeit des digitalen Scheins.
Den Zweck des Mittels Digitalisierung kann ich immer seltener erkennen. Sie erscheint dann als Selbstzweck. Frei nach Armin Nassehi “ Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“[1]. Die gleichzeitige Abschaffung von Originalen („There is no such thing as original anymore. …“[2] gerade durch Juristen wie z.B. auch Notare (wie gehen Urkunden ohne Originale?) finde ich höchst bemerkenswert. Auch sog. „digitale“ Unterschriften auf per Stift auf Lesegerät ohne Verbindung zum unterschriebenen Dokument, wie z.B. bei Bahn oder Meldeamt üblich, haben als erpreßte Blanko-Unterschrift keine Beweiskraft, sind also nur digitaler Hokuspokus.
[1] https://www.bpb.de/mediathek/video/297838/armin-nassehi-fuer-welches-problem-ist-die-digitalisierung-eine-loesung/
[2] The Xerox Alto │Bravo Demo 2017 https://www.youtube-nocookie.com/embed/q_Na1SJXSBg?t=371s Charles Simonyi, PARC ca 6:11
> Den Zweck des Mittels Digitalisierung kann ich immer seltener erkennen. Sie erscheint dann als Selbstzweck.
Wenn Digitalisierung kaum Nutzen stiftet, dann scheint das so. Aber ein wesentlicher Zweck bleibt dabei unbeachtet: Der Aufwand, der betrieben werden muss, generiert Wirtschaftswachstum. Nun mag man lange darüber streiten, ob das sinnvoll ist. Tatsache jedoch ist, dass einige davon reicher werden, andere hingegen nicht. Das erklärt auch dass ein Hype entstehen soll, der dann auch solange anzuhalten hat, bis die Taschen gut gefüllt sind.
Danke Bianca für diese wie immer lesenswerte Kolumne! Kann ich alles unterschreiben. Meinen Kunden und Kundinnen habe ich einige male gesagt:
** Man kann erzieherische Aufgaben nicht an Technik delegieren. **
Da ging es um so genannte „Kinderschutz“-Sperren, mit denen die Eltern das Online-Leben ihrer Kinder und Jugendlichen auf technischem Wege gängeln wollen. Funktioniert natürlich nicht, jedenfalls nicht lange. ;-)
Anderes Thema: Das OZG verlangt leider nur, DASS digitalisiert wird. Aber digitalisieren um des Digitalisierens willen ist Humbug, wenn kein Nutzen oder Vorteil dadurch entsteht. Vor allem aber ist extrem wichtig, WIE digitalisiert wird. Eine Digitalisierung, die die Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung gefährdet und den Schutz der Daten, ist zum Scheitern verurteilt. Darüber habe ich (unter anderem) hier schon mal geschrieben: https://netzpolitik.org/2022/degitalisierung-der-fortschritt-und-seine-verklaerung/#comment-2565660
Ausführlicher steht es hier: https://www.pc-fluesterer.info/wordpress/2023/02/11/wollt-ihr-die-totale-pkz-so-nicht/
Aus den Tiefen der öffentlichen Verwaltung kann ich berichten, dass das OZG an einigen Stellen nur dazu geführt hat, dass Dinge nicht mehr von einem Papierantrag sondern von einem computergenerierten PDF abgetippt werden.
Es geht um Kontrolle. Man will keine Lösungen.
Man nimmt ein Problem das viele beheben wollen und stellt eine Lösung vor. Die bringt zwar nichts, aber das Volk denkt es tut es. Man wird sowohl politisch, persönlich als auch ggf. monetär (lobby) belohnt. Warum sollten die dann nach echten Problemen suchen? Die brauchen länger als eine Legislaturperiode.
Die Digitalisierung kann nicht Urkunde, kann nicht Privatsphäre, kann nicht Amtsgeheimnis und kann nicht Grundgesetz. Und das seit bereits seit deutlich mehr als 10 Jahren. Das ist das Problem.
Früher oder später werden wir uns also entscheiden müssen, ob wir uns der juristisch schwerbehinderten Digitalisierung als Wirtschaftsform angleichen sollen, oder aber die Digitalisierung inkl. ihrer KI an den Algorhytmen unserer Verfassung scheitern lassen sollten.
So binär wird die Zukunft sein, wenn wir nicht aufpassen.
Ich möchte aus gegebenem Anlass meinen Ausführungen von gestern noch etwas hinzufügen:
Die Digitalisierung kann auch nicht Sicherheit.
Trotz NSO, Pegasus und anderen digitalen Systemen ist es Israel als digitale Größe irgendwie verborgen geblieben, was die erklärten Todfeinde da vor den Haustüren Israels planten. Diese Erfahrung sollten wir in unsere Sicherheitsarchitekturen übernehmen: Sicherheit als Verkaufs- Argument für den Ausbau digitaler – auch KI-basierter -Kontrollentwürfe fällt flach.
Gerade zu dieser Kolumne kann man so viele spannende Einblicke geben. Gerade wenn es um die Digitalisierung, OZG und ELSTER geht. Gerade dort gibt es nämlich viele Entscheider die bewusst dafür sorgen bzw. sorgen wollen, dass die Digitalisierung gar nicht weiter voranschreitet. Da wird in unzähligen Diskussionen mit den Oberbehörden dafür gekämpft, dass das ELSTERZertifikat nicht beerdigt wird und die substantielle Sicherheitsstufe weiterbescheinigt wird (hoffentlich die letzte Verlängerung; https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/elster-elektronischer-personalausweis-bundid-1.5775656 ).
So wird intern bspw. dafür gekämpft, dass die BundID keine Fahrt aufnehmen kann sondern es wird kurzerhand eine eigene Lösung forciert (https://info.mein-unternehmenskonto.de/) – neben der BayernID, der BundID und dem ELSTERZertifikat. Es soll die Möglichkeit bieten sich digital bei einer Behörde per ELSTERZertifikat einzuloggen, doch bloß nicht über eine andere Möglichkeit und schon gar nicht den Personalausweis über die Online-Ausweisfunktion.
Im verlinkten Beitrag zu den Problemen von ELSTER Anfang Oktober steht geschrieben „Auch die Verfügbarkeitshistorie der Elster-Server gibt keinerlei Aufschluss über die aufgetretenen Probleme. Zuständig für die technische Umsetzung des Elsterportals ist das Bayerische Landesamt für Steuern“ (also in diesem Artikel: https://www.heise.de/news/Elster-Probleme-Bayerisches-Landesamt-fuer-Steuern-sucht-noch-nach-Fehler-9323296.html). Genau da liegt aber das Problem, denn das mag zwar indirekt stimmen aber nicht wirklich. ELSTER wird eher verwaltet und gesteuert von Consultingfirmen (maßgeblich 2 Stück) und einem im BayLfSt extra aufgebauten Sub-Betrieb, der sich nur um ELSTER kümmert und in IuK 3 liegt und zu 90 % aus Beamten der Laufbahn Steuern und Verwaltung besteht (externe Problemlösung ist somit fast immer notwendig).
Hallo Bianca,
da du vom Gesundheitswesen her die Digitalisierung und die Degitalisierung her betrachtest hier eine zu Unrecht etwas angestaubte Datei (2007 +), die vielleicht längst bekannt ist:
Auf http://www.ccc.de findest du auf der Startseite in der linken Spalte die Rubrik „Themen“, und in dieser Rubrik das Thema „Elektronische Gesundheitskarte“, was an sich schon nicht uninteressant und lesenswert ist. Weiter unten folgt nun der Abschnitt „Kosten“, in dem die Verfasser sich auf ein Gutachten der 2006 beteiligten -und mir bis dahin unbekannten-Beraterfirma Booz/Allen/Hamilton beziehen.
Das sah alles für mich einigermaßen normal aus bis zum Jahr 2013, als ein junger Typ namens Edward Snowden per Video den Digitalisierungsskandal der USA eröffnete und sich als Mitarbeiter bei Booz/Allen/Hamilton, einer NSA-Contractor-Firma outete.
Die NSA plante bei der eG mit.
Wenn Gesundheitsdaten per Mausklick über Schreibtische digitaler Überwacher laufen könnten,
wäre das rechtlich katastrophal für alle Mitarbeiter des Gesundheitswesens…
Mit freundlichem Gruß
Karsten